Wiener Strassenbahnlinie 71 - Das bewegte Leben der Friedhofsbahn

Ab Dezember wird die Wiener Strassenbahnlinie 71 verlängert. Der 71er ist eine der berühmtesten Linien der Stadt, seine Fangemeinde hat eine geplante Umbenennung erfolgreich verhindert, seine Strecke ist legendär.


Von Duygu Özkan  - Die Presse

Der 71-er bei der Haltestelle "Zentralfriedhof 3. Tor"                    Foto: Marcel Manhart

 

Wenn es etwas gibt, das die Wiener Straßenbahnlinie 71 von den anderen Straßenbahnlinien unterscheidet, dann wohl die Tatsache, dass man mit dem 71er auch dann fahren kann, wenn man tot ist. Für den geübten Wiener nämlich ist der Satz „Er ist tot“ viel zu kunstlos, stattdessen wird der Verlust mit „Er ist mit dem 71er gefahren“ beschrieben. Kein reiner Fantasiesatz, denn der 71er tuckert an vier Toren des Zentralfriedhofs vorbei, jenem morbiden Stolz der Stadt, dem nachgesagt wird, „halb so groß wie Zürich, aber doppelt so lustig“ zu sein.

 

Der 71er also. Sein Machtbereich erstreckt sich vom Schwarzenbergplatz bis nach Kaiserebersdorf, 25 Stationen, 35 Minuten pro Strecke – im Idealfall. Der 71er ist ein verkehrstechnischer Evergreen, der Refrain der Wiener Linien, ein Klassiker eben. Er ist nicht nur Friedhofszubringer, sondern auch identitätsstiftend für die Simmeringer, bei denen sich die Straßenbahn bei ihren täglichen Touren am längsten aufhält. Ab dem 9.Dezember wird die 71er-Strecke in der Inneren Stadt verlängert, vom Schwarzenbergplatz bis zur Börse, wie die Wiener Linien jüngst bekannt gaben. Die Kaiserebersdorfer Strecke des 71er übernimmt dann die Linie 6.

 

Die Planung der neuen Linienführung ging nicht ohne Proteste über die Bühne: die Simmeringer fürchten, dass die Intervalle länger werden. Und – fast noch skandalöser für Simmeringer Seelen – der 71er hätte umbenannt werden sollen in Linie 4. Zumindest das konnte verhindert werden. Wer möchte schon mit einer Nummer 4 zum Zentralfriedhof, klingt viel zu jung, da passt die 71 schon eher.



Striche statt Nummer

 

Alt ist die Linie wirklich. Bereits 1873 führten Gleise über den Rennweg bis knapp vor Simmering, ein Jahr später fuhr die Bahn bis zum zweiten Tor des Zentralfriedhofs. Wobei „fuhr“ auch nicht wirklich zutrifft, damals wurde die Straßenbahn von Pferden gezogen und „Tramway“ genannt. Im selben Jahr entstanden in der Simmeringer Hauptstraße zwei große Remisen mit Wohnhäusern für die Schaffner (Kondukteure) und Stallungen für die Pferde. 71 hieß die Straßenbahn damals noch nicht, stattdessen wurden die drei Linien, die vom Schwarzenbergplatz abfuhren, mit runden weißen Tafeln und einem roten Strich ausgestattet (Endstation Rennweg) – oder zwei roten Strichen (Zentralfriedhof) und zwei blauen Strichen (Zentralfriedhof über Landstraßer Hauptstraße).

 

Die Tramway musste 1901 für die elektrische Bahn, inhaltsreich „Elektrische“ genannt, den Weg räumen. Die Pferde wurden entlassen – eine der Remisen verwitterte, die andere diente als Bahnhof –, und sechs Jahre später wurde jene Linie, die über die Simmeringer Hauptstraße geführt wurde, 71 getauft. Ganz ausgedient hatten die Pferde im Wiener Verkehr freilich nicht, denn die Toten haben sie nach wie vor zum Zentralfriedhof gefahren. Erst mit Ende des Ersten Weltkrieges wurde auch der Leichentransport mit der Elektrischen durchgeführt, später mit eigenen Leichenwägen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schließlich wurden die Toten nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln transportiert.

 

Die heutige Strecke des 71ers wurde 1969 eingeführt und Mitte der 90er-Jahre vom Zentralfriedhof bis Kaiserebersdorf verlängert, dadurch konnten auch die Bewohner der neuen Wohnsiedlungen am Leberberg an die Stadt angebunden werden. Ebenfalls in den 90er-Jahren war der 71er gleich in zwei große Unfälle verwickelt – beide Male an der Stelle Simmeringer Straße/Gottschalkgasse und in beiden Fällen sogar mit derselben Garnitur. 1993 entgleiste der Zug und knallte in ein Geschäft, getötet wurde niemand – im Gegensatz zum Jahr 1998. Damals wurden im Wiener Netz noch rund 40 Weichen mit der Hand verstellt, unter anderem jene am Unfallort, die allerdings falsch. Die Straßenbahn entgleiste, ein Waggon wurde in eine Bankfiliale geschleudert und klemmte einen 19-jährigen Angestellten am Schreibtisch ein. Er war sofort tot, weitere 37 Personen wurden verletzt.

Verletzt wurde zumindest vor zwei Jahren niemand, als ein augenscheinlich bekiffter Straßenbahnfahrer den 71er „lenkte“. Laut Augenzeugenberichten schaffte er es nicht, bei der Haltestelle anzuhalten, blieb dafür aber irgendwo auf der Strecke stehen. Nach einer recht holprigen Fahrt haben Passagiere die Polizei alarmiert, ein Alkoholtest verlief negativ, ein Drogentest positiv. Im Polizeibericht wurde festgehalten, dass der Fahrer „schläfrig“ gewirkt habe.

 

 

U3 fast als Konkurrenz

 

Mit dem (Aus-)Bau der U-Bahn-Linie 3 kamen dem 71er die Kunden abhanden. Wobei: die Endstation der U3 heißt Simmering, und hier ist weit und breit kein Zentralfriedhof in Sicht. Friedhofsbesucher müssen also auf die 71er-„Bim“ – wie die Wiener Straßenbahn jugendlich genannt wird – ausweichen. Mit seiner Funktion als Friedhofsbahn hat es der 71er weit über die Landesgrenzen hinaus geschafft. In einem Erfahrungsbericht in der deutschen „Zeit“ wird zum Beispiel darauf hingewiesen, dass es im 71er stinkt. Nach Schweiß, der selbst im Jänner „in jeder gewünschten Menge vorzufinden“ sei. Nur zwischendurch werde der unangenehme Geruch durch Lavendel und Kölnischwasser aufgelockert, und zwar dann, wenn sich die Witwen der Stadt auf den Weg zum Friedhof machen.

 

Touristen sind im 71er ebenfalls verlässlich anzutreffen. Sie sind nicht irrtümlich hier gelandet, vielmehr hat ihnen ihr Reiseführer die Bim-Fahrt vorgeschrieben, und zwar zum Zentralfriedhof. Wohin sonst? Abgesehen vom Schwarzenbergplatz und der kurzen Strecke auf dem Rennweg (äußere Belvedere-Wand, das ein oder andere schmucke Haus) gibt es während der Fahrt nämlich nicht viel zu bestaunen.

 

Die meiste Arbeit hat der 71er freilich zu Allerheiligen. Bilder aus der Zeit der Jahrhundertwende zeigen einen regelrechten Ansturm auf die Elektrische, ein Meer an schwarz gekleideten Menschen, allesamt mit Hut. An diesen Tagen wurde auch das sonst ausgelaufene Pferdewagen-Modell aktiviert, um den Andrang in den Griff zu bekommen. Heute besuchen zu Allerheiligen bis zu 300.000 Wiener den Friedhof (der „Zeit“-Autor sollte an diesem Tag einmal fahren). Die Intervalle auf dieser Strecke werden dann verkürzt – die moderne Antwort auf den Pferdewagen also. Bis vor zehn Jahren wurde als Verstärkung für den 71er die Allerheiligen-Linie 35 eingesetzt.

 

Einige Jahre lang hatte der 71er auch einen kleinen Bruder, den 72er (1991–2000). Die Linie wurde von der Schlachthausgasse zum Rennweg geführt – und von dort zurück zum Zentralfriedhof. Seit dem Bau der U3 hatte der 72er eine wichtige Funktion als Zubringer zu den U-Bahn-Stationen, mit der U3-Verlängerung nach Simmering wurde die Linie allerdings eingestellt. Ein Schicksal, das dem 71er (vorerst) erspart bleiben wird. Im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder hat er nämlich alles: ein Streckenmonopol, eine treue Kundschaft, Kultstatus und sogar seine eigene Todesdrohung: „I schick di mit'm 71er ham.“

 

Die Linie 71

 

1873 wurde eine Pferde-Tramway zwischen Schwarzenbergplatz und St. Marx eingerichtet

 

Ab 1901 wurde die Linie elektrisch geführt und sukzessive verlängert.

 

1907 erhielt die bisher namenlose Linie die Kennung 71.

 

Bis 1945 wurden mit der Straßenbahn auch Leichen zum Zentralfriedhof transportiert.

 

1993 und 1998 ereigneten sich Unfälle mit dem 71er,

beide Male an der Ecke Simmeringer Hauptstraße/Gottschalkgasse.

 

Ab 09. Dezember 2012 fährt der 71er ab der Börse über den Schwarzenbergplatz zur neuen Endstelle Zentralfriedhof.