Altbewährt: Am 17. Januar 1962 fuhr die erste Schnellbahn von Floridsdorf nach Meidling und nicht jeder in Wien wünschte ihr damals ein langes Leben....
Die Schnellbahn in Wien wird 50 Foto: Marcel Manhart
Am Anfang fuhren noch in jeder Schnellbahn zwei Lokführer mit: Einer im vorderen Triebwagen, der war auch der Bremser. Und einer im hinteren Triebwagenende war notwendig, weil der hintere Wagen
nicht vom vorderen Führerstand gesteuert werden konnte. Dazu gab es noch zwei Respektspersonen mit Kapperl, die Schaffner, sie haben unterwegs regiert.
Wie die Zeit vergeht ...
Heute noch leuchten seine Augen, wenn er von damals erzählt. Damals war Josef Ertl, ein gebürtiger Stockerauer, 25 Jahre jung. Damals war er ein Schnellbahn-Kutscher der ersten Stunde.
Zug fährt ab – in Floridsdorf. Sein Leben als Eisenbahner lässt sich in 25-Jahr-Kapitel einteilen. Mit 25 ging es mit der S-Bahn los, mit 50 ging er in Pension. Heute ist er 75 und seit 25 Jahren
nur mehr Fahrgast. Gerne erzählt er, während unser Jubiläumszug über die Donaubrücke bummelt, von seiner zweiten Leidenschaft – dem Eisenbahn-Modellbau.
Wiener Skeptiker
Es wär’ wohl nicht Wien, hätte man den Zug der Zeit (die Wiener S-Bahn war europaweit einzigartig, davon wird gleich noch die Rede sein) mit offenen Armen empfangen. „Unter den älteren Kollegen
gab es nicht nur Befürworter“, erinnert sich Herr Ertl, während ein weiterer prall gefüllter Pendlerzug den Praterstern in Richtung Norden verlässt.
Der KURIER zählte nachweislich nicht zur Fraktion der Skeptiker und Schlechtmacher: „Noch 72 Stunden bis zum Tag X“, freute sich das Blatt für seine Leser. Und gab ihnen gleich auch ein Gefühl
von der Zukunft mit auf den Weg: „Mit 100 km/h zwischen Meidling und Floridsdorf!“ (Dass es dann nur 80 waren, sei’s drum.)
Das Tempo war auch mit 80 km/h erstaunlich. Wien sollte in vollen Zügen näher zusammenrücken. Ebenso bemerkenswert: Zum ersten Mal durfte man mit einem Tramway-Fahrschein auch die Schnellbahn
benützen. Dies war deshalb möglich, weil man in der Stadt Wien und im Verkehrsministerium nicht gegen-, sondern miteinander arbeitete.
So haben zum Beispiel die Eisenbahner ihren Bahnhof Floridsdorf einen halben Kilometer weiter südlich, am Franz-Jonas-Platz, neu gebaut. Im Gegenzug haben die Wiener Straßenbahner ihre Züge nicht
länger beim Amtshaus am Spitz halten lassen, sondern die Gleise in Richtung Bahnhof verlegt.
Wie die Zeit vergeht . . .
Naturgemäß kann sich der Fahrdienstleiter Franz Haas nicht mehr selbst erinnern: An den großen Bahnhof, den das offizielle Österreich der neuen Bahn bereitet hat. Der 51-jährige Wiener lag noch
in den Windeln, als der Festzug am 17. Jänner 1962 am Südbahnhof bereitgestellt wurde und Bundespräsident Adolf Schärf an Bord ging. Dennoch kann Haas, der am zentralen Stellwerk Praterstern
arbeitet und dort mit seinen Kollegen darauf achtet, dass die Züge zwischen Wasserpark und Donaukanal unfallfrei passieren können, Auskunft geben. In seiner Freizeit leitet er das Bezirksmuseum
Leopoldstadt. Und man wird in Wien nicht leicht einen Zweiten finden, der so viel historisches Material zur Geschichte der Wiener Schnellbahn gesammelt und katalogisiert hat ( siehe
Ausstellungsinfo unten ). Auch irgendwie Wien: „Die Skepsis der Wiener ist glücklicherweise binnen weniger Tage verflogen.“
Schon 72 Stunden nach der ersten regulären Fahrt mit Fahrgästen (in den Morgenstunden des 18. Jänner) konnte der KURIER im Chronikteil titeln: „Sturm auf die neu eröffnete Schnellbahn: Zwei
Verletzte. “Ein Gefühl für das Wien der späten 1960er-Jahre geben auch die abgedruckten Reaktionen der Wiener. Anton Stift, 32, Mechaniker aus dem 10. Bezirk, meinte etwa: „Die S-Bahn ist ein
Genuss. Ich kann jetzt um eine halbe Stunde länger schlafen.“ Ein Genuss für ganz viele, denn mit der Straßenbahn benötigte man fast zwei Stunden – vom 21. in den 12. Bezirk. Auch ein zwischen
den Zeilen genervter Fahrdienstleiter aus Floridsdorf wird in der Zeitung zitiert: „Mehr Disziplin wäre notwendig. Sagen Sie das den Leuten.“
Viel Verkehr
Inzwischen ist viel Wasser den Donaukanal hinunter geflossen. Einfahrt in die Station Wien-Mitte. Pensionist Ertl ist keine 25 mehr, möchte auch mit „den Heutigen“ nicht tauschen: „Heute ist viel
mehr Verkehr, haben sie weniger Pausen. Außerdem fahren sie oft ganz alleine.“ Dafür sitzen seine Kollegen auf gefederten Sesseln, die besser vor den permanenten Schlägen, die von den Schienen
ausgehen, schützen.
Was sich im Laufe von 50 Jahren für die Lokführer keineswegs verändert hat: Dass ihr Dienstplan den Rhythmus ihres Lebens vorgibt, und dass der Fahrplan den Takt ihrer Arbeit bestimmt. Der
Eisenbahner lächelt: „Ich hab’ unterwegs immer ganz genau gewusst, wie viele Minuten es vor oder nach der Stunde ist. Aber in welcher Stunde wir uns gerade befinden, das hast du mich nicht fragen
dürfen.“
Auch die Wiener Mentalität hat sich nicht geändert. Derzeit wird über der unterirdischen Station Südbahnhof der neue Hauptbahnhof gebaut. Überall im Land gilt heute die Unschuldsvermutung. Nur
hier regiert wieder einmal die Skepsis. Bei den ÖBB muss man viel Steuergeld in die Hand nehmen, um den Wienern die große Baustelle als ihren Bahnhof der Zukunft zu verkaufen.
Wie vor 50 Jahren „endet“ unsere Fahrt in Meidling (sagt der Schaffner, heute Zugbegleiter genannt). „Zug 4 Minuten verspätet“, leuchtet’s auf der Anzeigetafel. Das ist nicht so schlimm wie uns
vorkommen mag. Was sind 4 Minuten gegen 50 Jahre? Und was wäre die Wiener Schnellbahn ohne Verspätung?