Welcher Wert dem öffentlichen Verkehr beigemessen wird, zeigt sich in nächster Zeit an einem Beispiel im Fürstentum Liechtenstein. Dort könnte die S-Bahn FL.A.CH mit einem relativ bescheidenen Streckenausbau die ÖV-Systeme Vorarlbergs und der Ostschweiz zu einem durchgängigen überregionalen Angebot verknüpfen.
Doch obwohl damit der drohende Verkehrskollaps durch den stark zunehmenden grenzüberschreitenden Pendler-Autoverkehr verhindert werden kann, ist in einem Land ohne Bahnkultur die Zustimmung für das Projekt noch nicht gesichert.
LITRA Artikelserie «Wert und Preis des öffentlichen Verkehrs» (4/4)
ÖBB S-Bahn Zug bei der Haltestelle Schaanwald Foto: Marcel Manhart
Die Eisenbahn hat zwar im Fürstentum Liechtenstein eine lange Tradition, aber bislang keine grosse Bedeutung. Schon 1872 wurde die Strecke Feldkirch–Schaan–Buchs durch die Vorarlbergbahn
eröffnet. Als Besonderheit wird sie bis heute ausschliesslich von den ÖBB betrieben. Von den 18.5 km verlaufen gerade mal 9 km über fürstliches Territorium. Und davon hatte Liechtensteins
Bevölkerung bis anhin herzlich wenig: Sie diente nämlich primär dem Fern- und Güterverkehr im Transit. Grosses Handicap ist ihre Einspurigkeit, die bislang keinen modernen, dichten
Regionalverkehr zuliess. Seit 2000 gibt es zwar den «Liechtenstein Takt», der sich aber auf acht Zugpaare zu den Haupt-Pendlerzeiten beschränkt. Die ÖBB setzen dafür zwar modernstes Rollmaterial
ein. Doch das stiefmütterliche Dasein dieser Linie kommt optisch immer noch sehr deutlich zum Ausdruck: Die beiden Bahnhöfe Schaan-Vaduz und Nendeln sowie der Haltepunkt Schaanwald scheinen in
der «k.u.k.-Zeit» stillgestanden zu sein.
Strassenstaus rufen kaum genutzte Bahn in Erinnerung
Liechtenstein hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus einem dörflichen Lebensraum weitgehend zu einer Agglomeration mit teilweise (klein-) städtischen Strukturen entwickelt. Dieser Trend wird
sich künftig noch akzentuieren. Seit 1970 hat die Zahl der Einwohner um zwei Drittel auf 36'149 zugenommen, der Arbeitsplätze um das Dreifache auf 34'334 und der grenzüberschreitenden Pendler um
mehr als das Sechsfache auf 16'704. Bis in wenigen Jahren wird es in Liechtenstein gar mehr Arbeitsplätze als Einwohner geben; als Folge wird der Pendlerstrom weiter kräftig ansteigen. Die
negativen Auswirkungen sind mit täglichen Staus schon seit Jahren spürbar. Die Liechtenstein Bus Anstalt bietet zwar ein flächendeckendes Netz von über einem Dutzend Buslinien an; nur bleiben
eben die Busse auch im Verkehr stecken. Im Jahr 2003 wurde ein umfassendes Konzepts zu einem «Neuen strassenunabhängigen Verkehrmittel» erstellt. Eine Umsetzung war jedoch aufgrund der extrem
hohen Kosten, der mangelnden Siedlungsverträglichkeit und der Inkompatibilität mit vorhandenen Verkehrsmitteln nicht realistisch.
Unter diesen Voraussetzungen war es nahe liegend, sich der nur ungenügend für liechtensteinische Bedürfnisse genutzten Bahnlinie zu erinnern – zumal in deren nächstem Umfeld rund drei Viertel der
Arbeitsplätze von Grenzgängern liegen. Dazu kommt, dass mit den S-Bahnen St.Gallen und Vorarlberg rund ums Land moderne, leistungsfähige Bahnsysteme am Entstehen sind. Ein wichtiger Grundstein
dazu wurde im neuen Eisenbahngesetz gesetzt, wo festgelegt wurde, dass auf liechtensteinischem Territorium der Personennahverkehr künftig Vorrang vor dem Fern- und Güterverkehr hat. Eine wohl
weltweit einmalige Priorisierung! Nach einer Machbarkeitsstudie im Jahr 2007 wurde die Errichtung der grenzüberschreitenden S-Bahn FL.A.CH 2008 in einer Absichtserklärung zwischen dem Fürstentum
Liechtenstein, dem Land Vorarlberg und dem Kanton St. Gallen definiert. Anfangs Januar 2009 konnte ein Planungsvertrag zwischen dem Fürstentum Liechtenstein, der Republik Österreich und der
ÖBB-Infrastruktur Bau AG abgeschlossen werden.
Die Planungsarbeiten können im Dezember 2011 abgeschlossen werden; nach den Behördenverfahren, insbesondere einer Umweltverträglichkeitsprüfung, sollte das Projekt innert Jahresfrist
entscheidungsreif sein. Im Optimalfall wäre anfangs 2013 Baubeginn und Ende 2015 Inbetriebnahme.
Rasche Verwirklichung – grosse Wirkung
Dieser Zeitpunkt ist mindestens mal im Mobilitätskonzept «Mobiles Liechtenstein 2015». gesetzt. Darin wird der Bahn die Rolle als neues regionales Rückgrat des öffentlichen Verkehrs
zugedacht.
Das Projekt S-Bahn FL.A.CH beinhaltet als erstes die Errichtung eines halbstündlichen Taktverkehrs mit schlanken Anschlüssen in Feldkirch und Buchs und später weiterführende Direktverbindungen in
die Region. Hierzu sollen die Haltestellen zwischen Feldkirch und Buchs modernisiert und ein Doppelspurabschnitt zwischen Tisis und Nendeln für Zugskreuzungen errichtet werden.
Das Konzept beruht auf einem kombinierten Bahn/Bus-Angebot: Die Bahn als Mittelverteiler und der Bus als Feinverteiler. Integraler Bestandteil ist deshalb die optimale Verknüpfung mit dem
Linienbus, aber auch die Erschliessung der Haltestellen für Fussgänger und Velofahrer, sowie die Verankerung in den Ortsplanungen.
Das grosse Plus des Projektes ist seine realistische und rasch umsetzbare Verwirklichung: Es muss nur die bestehende Strecke ertüchtigt werden und kein Neubau erfolgen, was eine Inbetriebnahme
bis 2015 ermöglichen sollte.
Mit vergleichsweise bescheidenem Aufwand von 100 Mio Euro kann eine grosse Wirkung erzielt werden. Das enorme Potenzial deutet schon die gute Verdoppelung auf rund 600 tägliche Fahrgäste an, die
mit dem Liechtenstein-(Hinke)Takt auf dieser Linie erzielt wurde. Bereits mit Realisierung der 1. Etappe FL.A.CH kann mit einer Verfünffachung dieser Zahl gerechnet werden – dies vor allem
aufgrund der bedeutenden Fahrzeiteinsparungen, die gegenüber heute in der Regel fast eine Halbierung ermöglichen, z.B. von Nendeln nach Sargans noch 27 statt 51 Minuten. Damit kann der ÖV mit dem
Individualverkehr praktisch gleichziehen, respektive ihn während den häufigen Stauzeiten stehen lassen.
Wichtige Aufwertung im (internationalen) Standortwettbewerb
Die S-Bahn FL.A.CH stellt damit eine grosse Chance für Liechtenstein und die ganze Region dar. Mit dem Verbindungsstück Feldkirch - Buchs werden zum einen die S-Bahnen St.Gallen und Vorarlberg zu
einem überregionalen, grenzüberschreitenden Gesamtsystem aufgewertet. Durch die Schliessung dieser relativ kleinen Lücke profitiert zum andern der Wohn- und Arbeitsort Liechtenstein massgeblich
von einem übergeordneten Verkehrssystem. Zudem wird der Zugang zu den Fernverkehrsnetzen der ÖBB, SBB und DB einfacher und direkter. Im Konzept «Mobiles Liechtenstein 2015» wie auch im
Agglomerationsprogramm Werdenberg - Liechtenstein wird denn auch die Rolle der FL.A.CH als Schlüsselinfrastruktur für die Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung Liechtensteins betont.
Verkehrsminister Martin Meyer: «Mit dieser S-Bahn kann sich Liechtenstein im internationalen Standortwettbewerb besser positionieren und damit Arbeitsplätze wie auch Lebensqualität
sichern.»
Im Land herrscht deshalb bei Gemeinden, Verbänden und Regierung weitgehend ein Konsens über die Realisierung vor, zumal an die überblickbaren Investitionskosten die ÖBB massgeblich beitragen
dürften; derzeit laufen gerade die Verhandlungen über den genauen Kostenschlüssel. Gleichwohl braucht es noch weitere Überzeugungsarbeit: Seitens der oppositionellen Vaterländischen Union regt
sich nämlich Widerstand. Für Georg Sele, Präsident des Verkehrs-Club Liechtenstein (VCL), ist das ein rein wahltaktisches Manöver vor den nächsten Landtagswahlen 2013, das sich eine Partei nur in
einem Land ohne eigene Eisenbahngesellschaft leisten könne (es gab immer nur die ÖBB, die bis vor kurzem fast nur durchgefahren sind). Er bringt auf den Punkt, was sonst nirgends geschrieben
wurde: «Falls die FL.A.CH flach fällt, ist wohl auf Jahrzehnte die Chance für ein modernes S-Bahn-System vertan, weil dann die ÖBB die Strecke auf ihre eigenen Transitbedürfnisse ausrichten
dürften.»
Eine Bahn fürs Oberland ist auch schon angedacht
Gewiss sind auch in der Bevölkerung einzelne kritische Stimmen laut geworden. So wird etwa moniert, dass die FL.A.CH nur dem Unterland und der dort konzentrierten Industrie diene, dem dicht
besiedelten Oberland (Vaduz bis Balzers) aber kaum nützlich sei. So wie er seinerzeit schon den Liechtenstein Takt initiierte, hat der VCL deshalb selber Studien anstellen lassen zur
Schienenverkehrserschliessung des Oberlandes. Doch sowohl eine S- wie eine Trambahn erforderten Investitionen, die als erster Schritt politisch überhaupt nicht realisierbar wären. Dazu kommt der
Zeithorizont: Wie Markus Biedermann, Abteilungsleiter Verkehr beim liechtensteinischen Tiefbauamt zu bedenken gibt, bedingte alleine das raumplanerische Verfahren ein Mehrfaches der für das
aktuelle FL.A.CH-Projekt möglichen Realisierungszeit. Sowohl in der Projektleitung wie beim VCL ist man sich einig, dass die FL.A.CH-Umsetzung der Anfang aller weiteren Schritte sein müsse. Habe
die sich erst mal bewährt, so werde sich der politische Weg durch die Erfolgsdynamik selbst für grössere Schritte öffnen.
Kurze Doppelspur bleibt Engpass
Von aussen betrachtet könnte man freilich schon einige Schwachpunkte sehen. Etwa beim Güterverkehr: Durch den Umbau des Bahnhofs Nendeln wird die einzige Verladeanlage in Liechtenstein
aufgegeben. Da es auch keine Anschlussgleise gibt, werden im ganzen Land keine Güterlieferungen per Bahn mehr möglich sein. Dann ist die Aussage, dass der ungeliebte Transit-Güterverkehr nach
2025 abnehmen werde, weil nach Realisierung des integralen Halbstundentaktes zu wenig Kapazität bestehe, wohl etwas voreilig: Aufgrund der S-Bahn-Priorisierung scheinen die ÖBB zwar gezwungen,
einen Umweg für den Arlbergver¬kehr zu suchen, doch die dafür in Frage kommende Strecke Wolfurt-St.Margrethen-Buchs hat wegen ihrer Eingleisigkeit ihrerseits wenig Kapazität übrig. Ein anderer
Engpass ist auch beim Personenverkehr programmiert: Sowohl der Fernverkehr (Railjet) wie die S-Bahn müssen aufgrund ihrer nationalen respektive regionalen Vertaktung zweistündlich im Bereich
Nendeln/Schaanwald kreuzen. Sogar im Projektbeschrieb heisst es, dass «diese vier Züge auch mit einem Doppelspurausbau nicht konfliktfrei zu führen sind» und dass der Railjet weiterhin nicht
fliegend kreuzen kann, sondern im Doppelspurabschnitt den entgegenkommenden Zug abwarten muss. Angesichts des verspätungsanfälligen Railjet dürfte das die Achilllessehne der S-Bahn FL.A.CH
werden. Abhilfe dürfte wohl erst die angedachte direkte Einfahrt nach Feldkirch von Süden statt rund um den Ardetzenberg bringen.
Der Name
Die Bezeichnung der neuen Liechtensteiner S-Bahn ist ja buchstäblich klar – sie ist von den drei Ländern abgeleitet. Sie macht aber auch dem Wort nach Sinn: es gibt wohl kaum eine S-Bahn, die so
flach ist – ihr Höhenunterschied beträgt ganze 16 Meter. Weniger logisch hingegen ist der Begriff S-Bahn, der ursprünglich für Stadt-Schnellbahn steht. Liechtenstein mag ja allmählich zu einer
Bandstadt zusammenwachsen – eine eigentliche „Stadt“ gibt es aber im ganzen Ländle nirgends…
Das Projekt
- Anhebung der Höchstgeschwindigkeit von 70 bis 90km/h auf 100km/h durch Linienverbesserung;
- Errichtung eines 4.6 km langen Doppelspur-Abschnittes;
- Umbau Bahnhof Schaan-Vaduz und Haltestellen Schaan Forst Tisis (Ö);
- Verschiebung Haltestellen Nendeln und Schaanwald;
- Neuerrichtung einer Haltestelle Tosters (Ö);
- Aufhebung niveaugleicher Eisenbahnkreuzungen;
- Lärmschutzmassnahmen.
Die Etappen
- 1.Schritt: Durchgehender Stundentakt mit Verdichtung in den Hauptverkehrszeiten;
- 2.Schritt: Ausdehnung des Halbstundentaktes;
- 3.Schritt: Durchgehender Halbstundentakt.
Neben der zeitlichen Intensivierung des Verkehrs soll auch die räumliche Ausdehnung der S-Bahn FL.A.CH mit Direktverbindungen erfolgen. Im Rahmen des Agglomerationsprogramms
Werdenberg-Liechtenstein ist bis 2025 eine Durchbindung nach Sargans und Chur vorgesehen, was einen Doppelspurabschnitt im Raum Buchs – Sargans und eine Modernisierung der teilweise aufgehobenen
Stationen zwischen Buchs und Sargans bedingt; die Investitionen dürften sich nochmals auf etwa 100 Mio. Franken belaufen. Richtung Österreich ist eine Weiterführung bis Bludenz bzw. Bregenz in
Planung.
Die Organisation
Nachdem sich die Strecke Feldkirch – Buchs SG über drei Länder erstreckt, ergibt sich eine komplexe Projektorganisation. Im massgeblichen Steuerungsgremium hat Liechtenstein den Vorsitz. Dieser
ist auch die Projektkommunikation sowie die Koordination mit den Gemeinden angehängt. Für die internationale Abstimmung wurde der Lenkungsausschuss Schweiz, Österreich, Liechtenstein geschaffen.
Haltestelle Schaanwald Fotos: Marcel Manhart