Mit einer schlichten Feier gedachten gestern Nachmittag die Kantone Bern und Wallis, die Gemeinden Kandersteg und Ferden sowie die BLS AG dem Durchstich des Lötschbergtunnels vor 100 Jahren. An beiden Tunnelportalen wurden dazu Gedenktafeln enthüllt.
Durchstich vor 100 Jahren Foto: BLS
Am 31. März 1911 feierten die Mineure den Durchstich des Lötschbergtunnels zwischen Kandersteg und Goppenstein. Um 03.50 Uhr am frühen Morgen war es soweit – zwei Jahre, bevor im Juni 1913 das Bauwerk vollendet und dem fahrplanmässigen Verkehr übergeben werden konnte.
100 Jahre nach dem Durchstich wurden im Rahmen einer schlichten Feier an den beiden Tunnelportalen in Goppenstein und Kandersteg Gedenktafeln enthüllt. Auf Walliser Seite durch Staatsrat Jacques
Melly, Departementsvorsteher Verkehr, Bau und Umwelt, auf Berner Seite durch Wolf-Dieter Deuschle, Vorsteher des Amtes für öffentlicher Verkehr. Der
Lötschentaler Prior Franz Schnyder segnete zudem die Tafel in Goppenstein ein.
Vielfältige Nutzung der Bergstrecke
Die Nutzung der bald 100jährigen Bergstrecke zwischen Frutigen und Brig ist auch nach der Eröffnung des Basistunnels vielfältig. Sie dient einerseits mit den Regioexpress-Zügen «Lötschberger» der
regionalen Erschliessung und dem touristischen Verkehr; andererseits verkehren zwischen Kandersteg und Goppenstein beziehungsweise Iselle die Züge des Autoverlads. Zudem ist die Bergstrecke
wichtiger Bestandteil der Güter-Transitachse und bildet zusammen mit dem Basistunnel ein Gesamtsystem.
BLS CEO Bernard Guillelmon würdigte anlässlich seines Referates in Kandersteg das Pio-nierwerk: «Die Lötschbergstrecke ist das Ergebnis eingehender politischer Diskussionen, weitsichtiger
Entscheide und zahlreicher technischer Meisterleistungen. Leistungen, von denen wir heute noch profitieren.»
Leistungsfähige Transitachse
Vor 100 Jahren haben Bauherrschaft und Mineure die Basis für einen der leistungsfähigsten Schienenkorridore durch die Alpen gelegt. So fahren heute pro Tag durchschnittlich 85 Personenverkehrs-
und 110 Güterzüge über die Lötschbergachse. Die rege Nachfrage hat zur Folge, dass der frequenzstärkere Basistunnel an Spitzentagen voll ausgelastet ist. Deshalb und vor dem Hintergrund der
Prognose, dass der Personen- und der Transitgüterverkehr auf der Schiene bis 2030 um je 50% zunehmen wird, unterstützt die BLS AG die Forderungen des am 8. März gegründeten Lötschberg-Komitees.
Dieses verlangt, im Projekt Bahn 2030 das Augenmerk nicht nur auf die Ost-West, sondern auch auf die Nord-Süd-Achse zu legen.
BLS CEO Bernard Guillelmon: «Es ist zwingend, dass wir heute an dieser Gedenkfeier nicht nur zurück-, sondern auch vorwärtsblicken und die Weiterentwicklung der Lötschbergachse für künftige
Generationen an die Hand nehmen.» Das bedeutet die Behebung der Engpässe im Basistunnel, im Aaretal und rund um Bern.
Baulok als Denkmal am Bahnhof Kandersteg
Am Rande der Gedenkfeier übergab die Kandersteger Gemeinderatspräsidentin Barbara Jost dem Heimatverein Kandersteg eine ebenfalls 100jährige, restaurierte Dienstbau-Lokomotive, die «Simplon 1».
In Erinnerung an deren kurzzeitigen Einsatz beim Bau des Lötschbergtunnels wird diese Lokomotive künftig am Bahnhof Kandersteg ihren Standort haben.
Enthüllung der Gedenktafel in Goppenstein durch Daniel Wyder, Leiter BLS Infrastruktur und Staatsrat Jacques Melly Foto: BLS
Enthüllung der Gedenktafel in Kandersteg durch Bernard Guillelmon, CEO BLS AG und Wolf-Dieter Deuschle, Leiter Amt für Öffentlichen Verkehr Foto: BLS
Bericht SF Schweiz Aktuell vom 31. März 2011
Durchstich des Lötschbergtunnels am 31. März 1911
«Horch, was kommt von draussen rein?» Vier Jahre nach Baubeginn vernehmen Mineure auf de Tunnel-Nordseite ein verdächtiges Rattern. Es sind die Druckluft-Stossbohrmaschinen der anderen
Seite.
Bei jeder neuen Sprengung hofft man jetzt auf den Blick nach drüben und gleichzeitig fragt sich der leitende Oberingenieur Ferdinand Rothpletz voller Bangen, ob wohl die Tunnelachse stimme… Hat
sich Professor Baeschlin nach den wegen eines Unfalls notwendig gewordenen Korrekturen etwa geirrt?
«Durch!» Der Ausruf ertönt am frühen Morgen des 31. März 1911: Um 3.55 Uhr erscheint im Nordstollen ein mit einem Nelkensträusslein geschmückter Bohrer. Ein erster Gruss von Oberingenieur Moreau,
dem verantwortlichen Fachmann der Südseite. Durch ein faustgrosses Loch vereinbaren Moreau und Rothpletz, dass die Mineure der Nordseite die letzte Hürde, die noch 80 Zentimeter dicke Scheidewand
sprengen dürfen. Gegen fünf Uhr morgens ist es so weit. – Sobald Staub und Rauch genügend Sicht freigeben, reichen sich die beiden Oberingenieure auf dem Schutthaufen die Hand. Bald darauf
umarmen sich in wildem Durcheinander die von Freudentaumel ergriffenen Arbeiter und Mineure beider Seiten. Im Luftstrom, der sich spürbar vom Berner Oberland ins Wallis ergiesst, wird mit
Champagner angestossen. Die seitliche Abweichung der Stollenachsen and er Durchbruchstelle betrug lediglich 247 Millimeter, die Höhenabweichung 102 Millimeter…
Beeindruckende Bauinfrastruktur
Bei Baubeginn des Lötschbergtunnels leisten in Kandersteg sowie in Goppenstein und in Naters grosse Installationsplätze mit Maschinenhallen, Magazinen, Werkstätten und Bürogebäuden wertvolle
Dienste.
Sowohl in Kandersteg wie in Brig wurden Notspitäler eingerichtet. In Brig bezahlte die Bauunternehmung 50'000 Franken an den Bau eines neuen Bezirkspitals – als Gegenleistung hielt man im
Krankenhaus stets zwanzig Betten für kranke und verletzte Bauarbeiter bereit.
Bis zu 10'000 Arbeiter
Die gewaltigen Arbeiten erfüllten die bisher stillen Bergtäler der Kander und der Lonza mit ungewohntem Leben. Kandersteg und Goppenstein beherbergten während etwa fünf Jahren bis zu 10'000
Arbeiter: Tessiner, Berner, Franzosen, Serben, Mazedonier arbeiteten am Lötschberg – zum grössten Teil aber waren es Italiener, die als tüchtigste Tunnelarbeiter galten.
Auf der Südseite wurden die Leute vorerst im Knappenhaus eines alten Bergwerks und in Sommerhäusern oder Scheunen untergebracht. Viele der Italiener reisten jedoch mit der ganzen Familie an.
Allein in Goppenstein erstellte man vierzig neue Wohnhäuser, die Bevölkerung wuchs um rund 5000 Personen an. Sowohl in Kandersteg wie in Goppenstein wurden 200 bis 240 Kinder in Schulen einer
italiensichen Organisation unterrichtet.
Der Kampf gegen einen gewaltigen Berg
Fast ein wenig übereilt beginnt im Herbst 1906 durch ein französisches Unternehmenskonsortium der Angriff auf den gewaltigen Berg, der das Berner Oberland vom Wallis trennt. Auch schweizerische Ingenieure stehen im Einsatz. Von der BLS ist Oberingenieur Dr. Zollinger, technischer Direktor im Unternehmen, zuständig. Offiziell wird am 1. Oktober 1906 in Kandersteg der erste Spatenstich ausgeführt; am 15. Oktober 1906 kündigen die ersten Sprengschüsse den Baubeginn des Lötschbergtunnels auf der Nordseite an, in Goppenstein beginnt der Tunnel-Voreinschnitt 14 Tage später.
7,33 Meter vorrücken pro Tag
Die Arbeitsbedingungen sind, insbesondere für die unter Tag arbeitenden Mineure, hart, gefährlich und ungesund. Im Tunnelinnern herrschen Temperaturen bis zu 32,5 Grad und die Luft ist permanent
stickig und staubig. Gearbeitet wird in drei Schichten zu acht Stunden; sieben Tage pro Woche. Die Arbeit ruht nur an hohen Feiertagen. Die Dauer eines sogenannten Angriffs, bestehend aus
Bohrung, Ladung, Sprengung und Schutterung (Abtransport des gesprengten Materials), beträgt im Durchschnitt 4,45 Stunden. Das monatliche Vorwärtskommen liegt bei 220 Metern.
Bis zum Durchschlag werden 12'870 Angriffe ausgeführt. Insgesamt werden rund 460'000 Bohrer und 370'000 Kilo Dynamit verbraucht.
1908 - ein schlimmes Unfalljahr
Insgesamt waren beim Bau des Lötschbergtunnels 64 Tote und 4596 Verunfallte zu beklagen. Bei den Opfern handelte es sich vorwiegend um italienische Bauarbeiter. Es gab zwei besonders schlimme Unfälle, die sich beide im Jahr 1908 ereigneten.
Die Lawine von Goppenstein
Am 29. Februar ist ein Lawinenunglück in Goppenstein die Ursache. 30 Leute sitzen beim Abendessen in einem Gebäude der Bauverwaltung in der Nähe des Tunneleingangs, als die Schneemassen
niederdonnern. Für zwölf der Menschen kommt jede Hilfe zu spät.
Der Wassereinbruch unter dem Gasterntal
Am 24. Juli desselben Jahres bricht während den Bohrarbeiten direkt unter dem Gasterntal Wasser und Sedimentgestein in den Tunnel ein. Rund 7000 Kubikmeter Schutt füllte den Stollen innerhalb von
zehn Minuten auf einer Länge von 1500 Metern ganz oder teilweise. Dabei kamen 25 italienische Mineure ums Leben.
Nach diesem schrecklichen Unfall wurden die Bauarbeiten während mehreren Monaten unterbrochen; Fachleute projektierten eine drei Kurve umfassende Umfahrung. Dadurch verlängerte sich der
Lötschbergtunnel um 800 Meter – auf total 14'612 Meter.
Der Tunnel wird durchschlagen
Ab 15. März 1911 erhalten die Mineure die Weisung, mit grosser Vorsicht zu arbeiten. Gemäss den Triangulationsberechnungen sind die beiden Stollen nur noch 100 Meter voneinander entfernt. 10 Tage später hören die Mineure der Südseite zum ersten Mal die Explosionen auf der Nordseite. Die Oberingenieure Moreau und Rothpletz berechnen wieder und wieder ihre Triangulation. Wie gross wird die Abweichung in Höhe und Breite sein? Eine Telefonleitung wird zwischen den Stollen der beiden Seiten gezogen, damit die Ingenieure sich gegenseitig über die Sprengzeiten informieren können. Nun wird nur noch sechs Mal pro Tag gesprengt. Bald können auch die Mineure des nördlichen Stollens klar die Signale ihrer Kollegen auf der Südseite hören. Mit Metallhämmern schlagend, morst man sich Botschaften zu. Am 31. März um 2 Uhr morgens explodieren die Ladungen gleichzeitig auf der Nord- und Südseite. Der Durchschlag steht kurz bevor und verschiedene Persönlichkeiten haben sich im Tunnel versammelt, um diesem historischen Ereignis beizuwohnen. Nach gut zwei Stunden erschallt im Südstollen plötzlich der Ruf: «Traforo! Traforo!»
Der Lötschberg ist durchbrochen
Die Zeit der letzten Sprengung wird auf 03.50 Uhr vorverlegt. Auf beiden Seiten ziehen sich die Arbeiter zurück und warten mit grosser Spannung auf die Explosion. Ein italienischer Sprengmeister
hat die Ehre die Zündung der zwölf Ladungen auszulösen. Am 31. März 1911 um 3.50 Uhr morgens ist der Lötschberg durchschlagen. Durch die Öffnung mit einem Durchmesser von gut zwei Metern geben
sich die anwesenden Arbeiter und Ingenieure die Hand. Nach viereinhalb Jahren harter Arbeit und etlichen Verlusten an Menschenleben ist der Lötschbergtunnel, so wie ihn der verstorbene Wilhelm
Teuscher vorausgesehen hat, Realität.
Am 14. Mai 1911 findet das offizielle Fest zum Durchschlag statt. Vertreter des Bundesrats, kantonale Gesandte, die Direktion der SBB, das diplomatische Korps von Italien und Frankreich sowie die
Kader der EGL und der BLS sind dabei.
Mit dieser offiziellen Feier ist die Arbeit im Lötschbergtunnel noch nicht beendet. Erst zwei Jahre später ist ein Wunderwerk der damaligen Ingenieurkunst vollendet: Am 28./29. Mai 1913 findet
die definitive Abnahme der Linie Frutigen-Brig statt. Am 3. Juni fährt die erste elektrische Lokomotive durch den Lötschbertunnel.