Artikelserie Internationaler Bahnverkehr und die Schweiz (3/4)

Im Osten schlummert ein Bahnmarkt

 

Von Daniel Zumbühl - LITRA

 

In Osteuropa schlummert für den Schweizer Tourismus ein gewaltiges Potenzial. Die Bahnen haben dieses Potenzial erkannt und sind gewillt, ihren Marktanteil zu erhöhen. Neue Angebote wie der österreichische «Railjet» sind zwar gute Ansätze, doch gilt es in erster Linie die Reisezeiten zu reduzieren.

Gemäss der brandneuen, Mitte Juni 2010 vom Bund herausgegebenen Wachstumsstrategie für den Tourismusstandort Schweiz wurden die mit Abstand höchsten Wachstumsraten der Herkunftsmärkte zwischen 2003 und 2008 bei den osteuropäischen Märkten beobachtet (plus 14 Prozent pro Jahr). Dieses Wachstum spielte sich indessen bei einem vergleichsweise geringen Anteil der Gäste aus osteuropäischen Ländern an den Hotelübernachtungen (unter fünf Prozent) ab. Damit ist klar: In Osteuropa schlummert ein gewaltiges Potenzial für den Incoming-Tourismus in die Schweiz. Die Frage ist nur, wie sich die künftigen Ferienreisen von Touristen aus Ländern wie Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, Kroatien, Slowenien und Serbien auf die Verkehrsträger Strasse, Schiene und Flugzeug aufteilen werden.

Die  Railjet-Züge  aus  Österreich  sind  in  Sachen  "Pünktlichkeit"  in  der  Schweiz  derzeit  noch  eine  Baustelle                                                      Foto: Marcel Manhart

 

Zahlen zum Modalsplit, also darüber, wie sich der gesamte «Kuchen» auf die drei Verkehrs-träger heute und in Zukunft aufteilt, sind nur für den Verkehr zwischen Österreich und der Schweiz erhältlich. Laut einer im März 2010 veröffentlichten Studie der europäischen Kommission Mobilität und Transport erreichte die Bahn 2007 mit 730'000 Reisenden im gesamten grenzüberschreitenden Verkehr zwischen diesen beiden Ländern einen Marktanteil von acht Prozent. Mit sieben Prozent folgt der Luftverkehr der Schiene dicht auf den Fersen (wohl eine Folge der Billig-Flugangebote), während der Strassenverkehr mit 85 Prozent unangefochtener Spitzenreiter ist. Für das Jahr 2020 rechnet die Studie damit, dass die Bahn ein Prozent Marktanteil an das Flugzeug verliert und der Anteil des Strassenverkehrs konstant bleibt. Der erwartete Mehrverkehr im Zeitraum zwischen 2007 und 2020 wird sich gemäss der Studie in erster Linie in der Luft und auf der Strasse und nur marginal auf der Schiene abspielen.

Wesentlich optimistischer schätzt Schweiz Tourismus die Lage der Bahn im Incoming-Verkehr zwischen Österreich und der Schweiz ein: Man geht davon aus, dass der Anteil der Schiene 30 Prozent beträgt, jener der Strasse 65 und jener des Flugzeugs fünf Prozent. Zwischen Ungarn und der Schweiz dürfte der Bahnanteil um fünf Prozent geringer sein, und zwar zugunsten des Luftverkehrs, was angesichts der längeren Reisedistanz nachvollziehbar ist. «Weiteres Potenzial für die Bahn als Anreise- beziehungsweise Verkehrsmittel für österreichische und ungarische Schweiz-Urlauber ist vorhanden», gibt sich Schweiz-Tourismus-Mediensprecherin Véronique Kanel überzeugt. Um dieses zu nutzen, arbeite Schweiz Tourismus eng mit der österreichischen Bundesbahn (ÖBB) zusammen. «Seit Ende 2008 ist die ÖBB in Österreich offizieller Verkaufspartner für das Swiss Travel System. Und voraussichtlich ab dem nächsten Jahr investieren wir auch in Ungarn in den Verkauf der STS-Produkte», lässt Kanel durchblicken.

Ähnlich wie bei Schweiz Tourismus schätzt man auch bei der ÖBB die Lage ein: «Aus unserer Sicht besteht auf jeden Fall Potenzial, den Bahnanteil Richtung Schweiz noch zu steigern», sagt Thomas Berger, Pressesprecher der ÖBB-Personenverkehr AG. Die Nachfrage auf der Linie Wien–Salzburg–Zürich entwickle sich schon heute sehr positiv. Deshalb sei eine schrittweise Fahrplanverdichtung mit dem Ziel eines durchgehenden Zweistundentaktes bis Dezember 2012 geplant. In die Offensive ging die ÖBB bereits Ende 2009 mit der Einführung der ersten «Railjet»-Verbindungen zwischen Wien beziehungsweise Salzburg und Zürich. Diese neuen Vorzeigezüge lehnen sich nicht nur mit ihrem Namen an die Konkurrenz in der Luft an, sondern auch in Bezug auf die drei Komfortklassen und ihre Bezeichnungen. Dank im Aufpreis zum 1.-Klass-Billett inbegriffener warmer und kalter Getränke und Gourmet-Catering einer renommierten Wiener Adresse kann es die «Premium Class» durchaus mit der Business Class im Flugzeug aufnehmen. Weniger glücklich erfolgte der «Railjet»-Start zwischen Österreich und der Schweiz in Bezug auf die Pünktlichkeit: Aufgrund zahlreicher Baustellen vor allem auf der Korridorstrecke über deutsches Gebiet gehörten Verspätungen von mindestens einer halben Stunde zur Tagesordnung. «Die häufigen Verspätungen werden durch Massnahmen im Bereich der ÖBB-Infrastruktur ab dem kommenden Dezember reduziert», verspricht Berger.

Wollen die Bahnen bei den Tagesverbindungen Marktanteile hinzugewinnen, kommen sie nicht umhin, die Fahrzeiten durch Neubaustrecken für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu reduzieren. Ausser in Österreich passiert in Osteuropa allerdings kaum etwas in diese Richtung. Weniger relevant ist die Fahrzeitreduktion im Nachtverkehr. Im Gegensatz zum grenzüberschreitenden Verkehr mit Italien, wo Ende 2009 der letzte Nachtzug abgeschafft wurde, scheint das Geschäft mit dem «Nachtsprung» Richtung Osten zu florieren. Selbst aus der kroatischen Hauptstadt Zagreb ist es möglich, im Schlaf direkt in die Schweiz zu gelangen. Und die Relation zwischen der tschechischen Metropole Prag und Zürich teilen sich sogar zwei Anbieter: Die ÖBB mit ihrem EuroNight «Wiener Walzer», der zwischen Linz und Zürich direkte Kurswagen aus Prag mitführt, und City Night Line, die Nachtzugtochter der Deutschen Bahn, die Prag von der Schweiz aus durch deutsches Territorium ansteuert. «Wir sind sehr zufrieden mit der Auslastung, der Zug ist gut gebucht», gibt Sandra Weber vom Team City Night Line in Zürich zu Protokoll. Potenzial bestehe natürlich immer. «Dies vor allem in Monaten, die für Städtereisen wenig attraktiv sind – etwa im November, Januar oder Februar.»

Die direkten Bahnverbindungen aus Osteuropa in die Schweiz – ein Überblick
Die Ära der direkten Bahnverbindungen aus dem östlichen Nachbarland Österreich in die Schweiz war lange Zeit durch den «Transalpin» geprägt, den Paradezug der ÖBB und der SBB, der ab 1958 zwischen Wien und Basel und zuletzt noch bis Zürich verkehrte. Am 13. Juni 2010 wich der «Transalpin» dem neuen Komfortzug «Railjet» der ÖBB (Abfahrt in Wien um 9.20 Uhr; die Fahrzeit bis Zürich beträgt acht Stunden). Bereits auf den «grossen» Fahrplanwechsel vom 13. Dezember 2009 ersetzte das Aushängeschild der österreichischen Bundesbahn je ein Eurocity-Zugpaar zwischen Zürich und Wien beziehungsweise Salzburg. Für den Fahrplan 2011 ist ein weiterer «Railjet»-Angebotsausbau zwischen Österreich und der Schweiz vorgesehen: Ab dem 12. Dezember 2010 gibt es fünf Verbindungen auf der Strecke Wien–Zürich.

Wer lieber den «Nachtsprung» nutzen möchte, kann im EuroNight EN 466 «Wiener Walzer» von der ungarischen Hauptstadt Budapest (Abfahrt 19.05 Uhr) via Wien ohne Umsteigen nach Zürich gelangen. Der Zug führt ab Linz auch direkte Kurswagen aus der tschechischen Hauptstadt Prag mit. Eine weitere EuroNight-Verbindung mit dem Namen «Zürichsee» besteht von Graz nach Zürich, wobei direkte Wagen von Belgrad beziehungsweise Zagreb über Ljubljana und Villach geführt werden.


Zwischen Prag und Zürich bietet auch City Night Line eine teilweise mit speziellen Komfortschlafwagen bestückte Nachtzugverbindung an: Der CNL 458 verlässt die tschechische Hauptstadt um 18.31 Uhr und gelangt via Deutschland in die Schweiz.

(Fahrpläne und Preise unter www.citynightline.ch).


Und schliesslich gibt es noch täglich verkehrende direkte Nachtzugwagen aus der russischen Hauptstadt Moskau über Warschau nach Basel. Angesichts der langen Reisezeit von über 38 Stunden dürfte diese Verbindung wohl eher etwas für Hartgesottene sein.