Der Erfolg des Nahverkehrs wird zum Problem für die Schweiz. Das ganze Land ist im Begriff, sich in eine gigantische S-Bahn zu verwandeln. Dabei wäre ein ganz anderer Wohntrend von Nöten.
Ein Blick in die Halle des Zürcher Hauptbahnhofs Foto: Marcel Manhart
Jahr für Jahr steigen mehr Schweizerinnen und Schweizer auf die S-Bahn um. Was in den 90er-Jahren als Experiment im Millionenzürich begonnen hat, ist zum verkehrspolitischen Erfolgsrezept für das
ganze Land geworden. Die Zunahme des Pendlerverkehrs übertrifft selbst die optimistischsten Prognosen. Doch so paradox dies auch klingen mag: Der Erfolg der S-Bahn wird zum Problem für die
Schweiz. Das ganze Land ist im Begriff, sich in eine gigantische S-Bahn zu verwandeln.
Traditionellerweise wird in der verkehrspolitischen Debatte die folgende Gleichung durchgerechnet: Strasse gleich pfui, weil viel Abgase, Feinstaub und Lärm. Schiene gleich gut, weil wenig
Abgase, Feinstaub und Lärm. Daraus folgt: Die Verlagerung von Strasse auf Schiene ist aus umweltpolitischer Sicht zu begrüssen und die Bahntarife sind deshalb möglichst tief zu halten. Das hat
sich als Axiom in die Köpfe aller umweltbewussten Schweizerinnen und Schweizer eingeprägt. Jede Erhöhung der SBB-Tarife wird folgerichtig mit grossem Protestgeheul begleitet, denn jeder
Bahnpendler mehr ist schliesslich ein Erfolg für die Umwelt. Oder etwa nicht?
Wanderbewegungen des Mittelstands
Wer heute im Zug von Zürich nach Genf fährt, sieht eigentlich fast nur noch Vorstädte. Der Zersiedelungs-Krebs hat seine unübersehbaren Spuren im Schweizer Mittelland hinterlassen. Schuld daran
sind die Wanderbewegungen des Mittelstands. Er ist zuerst aus den Städten geflohen, weil sie zu verslummen drohten. Heute wird er aus den urbanen Wohnquartieren verdrängt, weil er sich im
Zeitalter der «Seefeldisierung» die Mieten der teueren Wohnungen nicht mehr leisten kann. Kommt dazu, dass wegen der Zuwanderung aus dem Ausland die Bevölkerung nach wie vor stark wächst.
Ökologisch sinnvoll wäre es, den immer knapper werdenden Wohnraum in den Städten besser zu nutzen und verdichteter zu bauen. Stattdessen werden nach wie vor ästhetisch zweifelhafte Wohnsiedlungen
auf die grünen Wiesen der Agglomerationen geknallt, weil dort die Baulandreserven billiger sind. Mit ihren effizienten und billigen S-Bahnen unterstützen die SBB diesen Trend. Auf diese Weise
werden Pendler geradezu gezüchtet.
Höhere Bahnpreise sind so gesehen das wirksamste Mittel gegen den Zersiedlungskrebs. Sie bewirken, dass es sich rechnet, Wohnen und Arbeiten räumlich zusammenzurücken. Will heissen: Höhere
Bahnpreise fördern das verdichtete Bauen in den Städten. Das wiederum würde ein weiterer und bedeutender Evolutionsschritt der Spezies homo sapiens bedeuten. Der moderne Mensch steigt morgens
weder ins Auto noch in die die S-Bahn. Er steigt aufs Velo.