Bis anhin konnte man Kritik an der Atmosphäre in den SBB als Nebengeräusch eines unternehmerischen Umbaus abtun. Seit diese Woche aber ein Aushängeschild der «neuen» SBB das Handtuch geworfen hat, fällt das nicht mehr so leicht.
Von Paul Schneeberger - NZZ Online
Am Freitag hat in Luzern der letzte runde Tisch über die Zukunft des SBB-Industriewerks in Bellinzona stattgefunden. Das Gremium war von Bundesrat Leuenberger vor zwei Jahren zur Aufweichung der verhärteten Fronten in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Werkstätte installiert worden – die SBB-Führung wollte damals aus Kostengründen überfallartig den einen Teil in das Industriewerk Yverdon verlegen und den anderen privatisieren. Heute ist zu konstatieren, dass das Problem in einvernehmlicher SBB-Tradition gelöst wurde. Nicht mehr die direktem Wettbewerb ausgesetzte SBB Cargo ist dafür zuständig, sondern der auf der Basis eines Monopols operierende Personenverkehr. Der Unterschied der Kostenstrukturen gegenüber der privaten Konkurrenz ist kein Thema mehr. Man erfreut sich am Effizienzgewinn, der sich konsensual erreichen liess.
Basis und Teppichetage
Anhand des Beispiels Bellinzona, an dem der damals seit einem Jahr amtierende Konzernchef Andreas Meyer und eine militante Basis aufeinanderprallten, fand der anschwellende und bis heute
anhaltende Kulturkonflikt innerhalb der Bundesbahnen die bis anhin grösste öffentliche Resonanz. Dieser überlagert und gefährdet das aufgrund des allgemeinen Kostenwachstums im Verkehrswesen
unabdingbare Streben nach mehr Effizienz und unternehmerischer Normalität bei den SBB. Indem die Konzernspitze in Bellinzona mit ihrem Vorgehen die Belegschaft vor den Kopf stiess, vereitelte sie
selber das wirtschaftlich sinnvolle Ziel, den Unterhalt der Güterwagen auszulagern. Der Kulturkonflikt, der im Süden im ersten Streik bei den SBB seit 1918 kulminiert hatte, verlagerte sich
seither in die Teppichetagen in Bern, und es ist nicht auszuschliessen, dass er im Zuge der laufenden Aushandlung eines neuen Lohnsystems und später auch eines neuen Gesamtarbeitsvertrags wieder
auf die Strasse getragen wird.
Jüngster Eklat auf der obersten Führungsebene war der Abgang von Jürg Schmid, der am Dienstag als neuer Chef Personenverkehr nach nur einer Woche im Amt das Handtuch geworfen hatte. Brisant ist
das insofern, als sich mit dem langjährigen und auch künftigen Chef von Schweiz Tourismus nicht der Exponent einer vergangenen Epoche, sondern ein Hoffnungsträger von Konzernleitung und
Belegschaft abgemeldet hat, der den in seinem Bereich nötigen frischen Wind versprach. Als Hauptgrund für seinen Ausstieg nannte Schmid, er habe erkennen müssen, dass sein Handlungsspielraum
kleiner gewesen sei als erwartet. Solches ist auch aus den Kreisen jener Kader zu hören, welche die SBB seit dem Beginn der Ära Meyer aus freien Stücken verlassen haben; von zu kurz gewordenen
Leinen und von steter Kontrolle ist da auch die Rede.
Erfolge und Herausforderung
Es handelt sich dabei nicht nur um hastig und teilweise auch materiell begründet verabschiedete Mitglieder der Konzernleitung, sondern auch um Leistungsträger der zweiten und dritten
Hierarchiestufe, die sich entschieden, nicht länger an der Modernisierung der SBB mitzuwirken, sondern ihre Karrieren ausserhalb fortzusetzen. Beispiele für den damit verbundenen Know-how-Verlust
sind die neuen Chefs der beiden Privatbahnen BLS und SOB oder des Bundesamts für Verkehr.
Angesprochen auf den Vorwurf der (zu) kurzen Leinen, bezeichnet Andreas Meyer sein Führungsmodell als «Weg zu einer wieder verstärkten divisionsübergreifenden Zusammenarbeit». Das sei durch die
enge Vernetzung des Systems Eisenbahn bedingt. Er verweist auf die Erfolge bei der lange als unmöglich deklarierten Steigerung der Pünktlichkeit im vergangenen Jahr, zu der drei Geschäftsbereiche
beitragen mussten. Auch förderten Neubesetzungen durch Meyer auf der obersten Führungsebene die Transparenz. Ein Beispiel dafür ist Philippe Gauderon, der als neuer Chef Infrastruktur das
SBB-Netz einer syste matischen Analyse unterziehen liess und dadurch deutlich machte, dass die Unterhaltskosten bis anhin um 60 Prozent zu tief veranschlagt waren.
Nächster Test für den Erfolg der Methoden von Andreas Meyer wird die Auslagerung der internationalen Sparte von SBB Cargo sein, wo es darum gehen dürfte, Löhne an das tiefere Marktumfeld
anzupassen. Dort wird ihm und seinen Getreuen der Druck zupasskommen, den das kompetitive Umfeld erzeugt, in dem sich dieses Geschäft bewegt. Abgesehen davon bewegen sich die Bundesbahnen als
De-facto-Monopolist allerdings weiterhin in einem geschützten Rahmen. Ihre Strategie geht dahin, sich durch eine vorgängige Anpassung von Strukturen und Anstellungsbedingungen fit zu machen für
mögliche Wettbewerbe auch im Personenverkehr. Ob das allerdings, unter anderem mit dem dieses Jahr auszuarbeitenden neuen Lohnsystem, das tendenziell oben Steigerungen und unten Senkungen
vorsieht, gelingt, ist fraglich: Solange kein klar sichtbarer Anlass zu Veränderungen besteht, sind solche nur schwer und nicht brachial zu realisieren.
Crux des Status
Auch in diesem Fall werden die angewendeten Methoden eine grosse Rolle spielen, und man darf gespannt sein, wie der oberste Chef mit einer für Bundesunternehmen sehr hohen persönlichen
Entschädigung einer gewerkschaftlich stark organisierten Basis mögliche Anpassungen nach unten «verkauft». Crux der SBB und von Andreas Meyer, der sich einst in Deutschland als Turnaround-Manager
ausgezeichnet hat, ist also vor allem auch der spezielle Status dieses eidgenössischen Unternehmens, das aufgrund seiner systemischen Komplexität kaum je im selben Masse freien Märkten ausgesetzt
sein wird, wie dies bei Swisscom und Post der Fall ist.
Der Treiber für Veränderungen bei den Bundesbahnen wird also auf absehbare Zeit hinaus stärker von innen kommen als von aussen. Gerade deshalb spielen Fingerspitzengefühl und eine motivierende
Atmosphäre an der Spitze der SBB eine noch grössere Rolle als anderswo.
Bei den SBB unter Andreas Meyer kam es zu einer weiteren Kündigung im Top-Management. Der Druck auf den CEO wächst.
Die Kündigungswelle bei den SBB hält laut «SonntagsZeitung» an. Die Bundesbahnen bestätigten Recherchen, wonach mit Thomas Remund ein weiteres Kadermitglied den Hut genommen hat. Remund war
Leiter Finanzen der Zentralbereiche und somit auch des Konzerns. Dazu war er Interims-Leiter Finanzen von Cargo und Infrastruktur.
Die SBB verlieren mit ihm den Finanzchef zweier wichtiger Unternehmensteile, die vor grossen Umbrüchen stehen. SBB-intern hatte Remund einen hervorragenden Ruf. Insider sehen in ihm darum ein
weiteres Opfer von Meyers Führungsstil. Nach dem Abgang von Remund und dem Gastspiel von Jürg Schmid als Chef des Personenverkehrs hat Meyer seit Amtsantritt mehr als ein Dutzend Spitzenleute
verloren und kommt jetzt unter politischen Druck.
Intern absichern
Verkehrspolitiker Ulrich Giezendanner (SVP) und Andrea Hämmerle (SP) verlangen, dass sich die SBB-Spitze in der Verkehrskommission erklärt. Deren Präsident Max Binder denkt sogar an eine
GPK-Untersuchung. Für Meyer entwickelt sich die Personalie Schmid laut «SonntagsZeitung» zum GAU: Meyer persönlich hatte den alten und neuen Direktor von «Schweiz Tourismus» in die SBB geholt.
Dem spröd wirkenden Meyer imponierte das Kommunikationstalent von Schmid. Er erhoffte sich von diesem Marketing-Kompetenz und Zugang zum Tourismus-Netzwerk.
Insider glauben aber auch, dass sich CEO-Meyer mit einem Quereinsteiger vor zu starker interner Konkurrenz absichern wollte. Schmid trat als Hoffnungsträger an, der der Marke SBB «ein bisschen
mehr Spritzigkeit und Jugendlichkeit» einhauchen sollte, wie Meyer selbst erklärte.
Teure Nachfolgesuche
Für die vermeintliche Nachfolge Schmids bei Schweiz Tourismus war dem «Sonntag» zufolge sein langjähriger Stellvertreter, Urs Eberhard, in der Favoritenposition. Er hatte demnach zwei externe
Gegenkandidaten. Doch der Vorstand sagte allen drei ab, nachdem Jürg Schmid sich meldete. Zuvor hatten sowohl Schweiz Tourismus wie auch die SBB auf externe Headhunter gesetzt. Gemäss «Sonntag»
kosteten diese, darunter Schilling & Partner, insgesamt 350'000 Franken.
INFOBOX
Brisantes meldet die Zeitung «Sonntag» zum abrupten Abgang Schmids bei den SBB. Dieser habe dem Vorstand von Schweiz Tourismus am 17. Mai mitgeteilt, dass er die SBB verlassen werde. Der 17. Mai war Schmids erster offizieller Arbeitstag bei den SBB. Am 19. Mai traf sich die Findungskommission von Schweiz Tourismus und einigte sich auf die Rückkehr von Schmid auf den Direktorenposten. Die Kündigung bei den SBB reichte Schmid, der diese Termine auf dem «Sonntag» bestätigte, am 25. Mai ein. Gemäss eignen Angaben am Vormittag - während er am Nachmittag formell vom Vorstand von Schweiz Tourismus gewählt wurde.
Jeder zweite Managerposten neu besetzt:
Unter SBB-Chef Andreas Meyer sind zwei Dutzend Führungskräfte abgetreten
Die Zahl der Abgänge in der obersten SBB-Führungsetage ist grösser als bisher angenommen. Jetzt fordert die Politik vom Bundesrat Antworten.
Jürg Schmid, der wieder Direktor der Marketingorganisation Schweiz Tourismus wird, dürfte nicht der letzte Abgang aus der SBB-Führungsetage gewesen sein. Die Liste der Personen, die ihren
Chefposten auf der ersten und zweiten Führungsebene verlassen haben, lässt sich aber auch so sehen. Von rund 50 Top-Managern in den obersten beiden Führungsetagen arbeitet rund die Hälfte nicht
mehr an ihrem angestammten Platz, wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» ergeben haben (siehe Tabelle).
Dabei dürfte der vielkritisierte Führungsstil von Andreas Meyer in zahlreichen Fällen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Viele würden freiwillig gehen, sagt ein Insider, der sich angesichts
des massiven Know-how-Verlusts um die Zukunft der SBB sorgt. Gemäss Insidern und Beobachtern wurden die freien Stellen oftmals durch Personen ersetzt, die Meyer unkritisch folgen.
Meyer gibt sich inzwischen selbstkritisch und gesteht in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» vom Freitag Fehler ein. «Es ist eine Gratwanderung, das richtige Tempo zu finden», sagt er. Für
den obersten Bähnler sind aber Personalwechsel im obersten Kader normal: «Wo gehobelt wird, fallen auch Späne.» Ebenso wenig ortet der Verwaltungsrat Handlungsbedarf. Er tagte diese Woche in
Paris.
Meyer wurde Anfang 2007 von der Deutschen Bahn geholt, weil ihm zugetraut wird, die grossen Herausforderungen der SBB zu lösen: Er muss die Güterverkehrssparte sanieren, die steigenden Kosten für
den Unterhalt in den Griff bekommen, den internationalen Personenverkehr weiterentwickeln und Kapazitäten für die zunehmenden Pendlerströme in der Schweiz bereitstellen. Dies führe zu einem
kulturellen Wandel des Unternehmens, sagt SBB-Sprecher Reto Kormann. «Personelle Wechsel im oberen Management sind vor diesem Hintergrund nicht aussergewöhnlich.»
Davon ist man in Bundesbern inzwischen nicht mehr überzeugt. Nach dem abrupten Abgang von Schmid hat sich SVP-Politiker Ulrich Giezendanner überfraktionell mit anderen Parlamentariern getroffen,
um den Fall SBB zu thematisieren. Über den Inhalt und die Resultate der Gespräche wurde Stillschweigen vereinbart, wie Giezendanner sagt. Offener ist SVP-Nationalrat Christoph von Rotz, Mitglied
der Kommission Fernmeldewesen und Verkehr: Er will am Montag in der Fragestunde das Thema SBB auf den Tisch bringen. Von Rotz will vom Bundesrat wissen, welche internen und externen Kosten den
SBB in den vergangenen zwei Jahren durch die Rekrutierung von Kaderpositionen entstanden sind. Zudem interessiert ihn, ob Abgangsentschädigungen bezahlt wurden und in welcher Grössenordnung diese
waren. Und er stellt auch die Frage, ob für Meyer vertraglich eine Abgangsentschädigung vereinbart wurde.
«Bei den SBB werden keine Abgangsentschädigungen bezahlt», sagt SBB-Sprecher Kormann. Damit entschärfen die SBB ein neues Minenfeld vorzeitig. Negative Schlagzeilen können die SBB zurzeit als
Letztes gebrauchen, denn sie sind in den kommenden Monaten auf das Wohlwollen der Politik angewiesen: Erstens wird sie darüber entscheiden, wo der Bund künftig sparen soll. Und da wird auch der
öffentliche Verkehr unter die Lupe genommen.
Zweitens muss das Parlament den Vorschlag des Bundesrates zur Sanierung der SBB-Pensionskasse annehmen. Der Vorschlag sieht vor, dass der Bund zur Sanierung gut 1,1 Mrd. Fr. übernehmen soll.
Drittens laufen die Verhandlungen zur Leistungsvereinbarung zwischen dem Bund und den SBB für die Jahre 2011 und 2012. Viertens, schliesslich, werden die Weichen für die Bahn 2030 gestellt.