Neue Perspektiven für und dank Voralpen-Express

In der aktuellen verkehrspolitischen Diskussion steht vor allem eine höhere Nutzerfinanzierung im Wort; die Bahnen müssen ihre Erträge verbessern. Tariferhöhungen sind die einfachste, irgendwann aber kontraproduktive Massnahme. Grosses Potenzial läge hingegen noch in der Erhöhung der Auslastung, die aber etwas Kreativität erfordert. Als Vorbild kann der Voralpenexpress gelten:

Mit relativ bescheidenen Mitteln wurden attraktive Züge geschaffen, die einen überdurchschnittlich hohen Freizeitverkehr aufweisen. Die Weiterentwicklung ist eine grosse Herausforderung, eröffnet aber auch ganz neue Chancen.

 

Von Peter Hummel - LITRA Artikelserie «ÖV – Fit für die Zukunft» (4/4)

 

Voralpen-Express im Bahnhof Romanshorn                                    Foto: Marcel Manhart

 

 

Seit Bahn 2000 erleben die Schweizer Bahnen eine anhaltende Zunahme der Passagierfrequenzen. Weil diese Steigerung vor allem durch den Pendlerverkehr generiert wird, ist sie aber nicht unproblematisch: Durch die Ausrichtung auf immer grössere Kapazitätsspitzen wird nämlich die gesamte Auslastung der Züge schlechter; sie ist inzwischen landesweit auf unter 30 Prozent gesunken! Eine Erhöhung der Erträge durch bessere Auslastung ist ein Gebot der Stunde. Die gewaltigen Dellen im Tagesgang können am ehesten mit neuem Freizeitverkehr geglättet werden - dank attraktiven Angeboten und Zügen.

 

Ein erfolgreiches und bislang einzigartiges Beispiel dafür ist der der Voralpen-Express (VAE), die direkte Bahnverbindung von Romanshorn nach Luzern. Ein Unikum auf dem Normalspurnetz: es ist der einzige Zug mit speziellem Namen und Wagenmaterial; die glanzvollen «Namenzüge» wie Rhone-Isar, Gottardo oder Transalpin sind ja längst passé (die wenigen neuen Namenzüge wie Rheintal-Express REX oder Glarner Sprinter verkehren mit normalen Wagen). Auch gibt es kaum einen Zug, der eine so heterogene Kundschaft hat: Schüler, Städtependler – und eine stetig steigende Zahl Touristen.

 

 

Zu steile Strecke und zu wenig Geld

 

Entsprechend komplex gestaltet sich die Evaluation zur dringend nötigen Erneuerung des VAE. Primäre Herausforderung ist die seit Jahren ungenügende Kapazität, insbesondere zwischen St.Gallen und Rapperswil. Wegen der 50-Promille-Steilrampen auf der ursprünglichen Strecke der Südostbahn (SOB) können aber die Fünf-Wagen-Stammkompositionen nicht einfach verlängert werden; falls Verstärkungswagen nötig sind, muss mit einer Schiebelok operiert werden.

 

Die andere grosse Einschränkung kommt von finanzieller Seite: Die 1997-2000 komplett erneuerten Revvivo-Wagen sind noch nicht abgeschrieben, sondern haben erst die Hälfte ihrer (zweiten) Lebenserwar¬tung erreicht. Obwohl in die Jahre gekommen, sind sie immerhin noch einigermassen gut im Schuss. Die SOB-Kantone wollten deshalb die Kassen noch nicht für neue Züge öffnen. Der VAE ist zwar als nicht abgeltungspflichtiger IR klassiert, wird aber aufgrund seiner vielfältigen Aufgaben grossteils wie ein Regionalzug bestellt und bezahlt. Für die Übergangszeit 2013-2019 waren deshalb kreative Lösungen für das notwendige zusätzliche Rollmaterial gefragt.

 

So wird etwa auf NPZ-Trieb- und Personenwagen zurückgegriffen, die durch den Einsatz der neuen Flirts frei werden.

 

Das Gütezeichen VAE hat Entwicklungspotenzial

 

Diese Zwischenlösung hat den Nachteil, dass der VAE kein einheitliches Erscheinungsbild haben wird: Die Kompositionen werden mit Lokomotiven des Typs Re 456 und 446 sowie Triebwagen des Typ NPZ 566 an Spitze und Schluss betrieben. Die zusätzlichen Zwischenwagen werden den nicht mehr benötigten ex-BT-NPZ entnommen. Dazu kommt ein unterschiedliches Komfort- und Interieurniveau (die Zusatzwagen bekommen nur das äussere VAE-Livree, aber keine Klimatisierung und Neubestuhlung). Dieses Manko wird durch die Aussicht aufgewogen, dass dafür fünf Jahre früher als ursprünglich geplant komplett neue Züge zum Einsatz kommen. Die SOB, die in einem Jahr die alleinige Verantwortung für den VAE übernehmen wird, ist bereits intensiv mit der Rollmaterial-Evaluation beschäftigt. Für Thomas Küchler ist klar, dass ein Kauf «ab Stange» kaum in Frage kommt. Die gegenwärtigen VAE-Waggons sind nämlich punkto Komfort und Ambiance den modernen Einheitstriebzügen auch heute noch ebenbürtig; die Panoramafenster in der 1. Klasse sind gar schweizweit einmalig grosszügig. Wenn immer möglich soll es wieder ein eigenständiger Wurf mit unverkennbarer Identität sein – das sei man dem VAE als Gütezeichen und Touristenzug schuldig. Mittlerweile würden nämlich durch den Feizeitverkehr schon über 40 Prozent der Verkehrseinnahmen erbracht – schweizweit ein einsam hoher Wert für eine normalspurige Bahn. Dieser Anteil legitimiert denn Küchler auch zu gewissen unternehmerischen Freiheiten: So sondiert die SOB nämlich Optionen für mögliche VAE- Verlängerungen. In der Tat wäre es ja eine bestechende Idee, den VAE im Westen mit der BLS-Linie durchs Emmental durch zu binden, und im Osten etwa nach Konstanz und/oder Bregenz zu verlängern, wohin künftig sowieso Schweizer Züge im Takt rollen werden. Solche Erweiterungen würden sich in dreifacher Hinsicht auszahlen:


  • erstens durch die Gewinnung neuen touristischen Verkehrs;

  •  zweitens durch rationellere Umläufe;

  • drittens durch einen günstigeren Stückpreis dank grösserer Neubeschaffung.

In seinen Ostschweizer Stammlanden könnte der VAE aber auch Vorbild für andere Züge der Region sein, um brachliegendes Freizeitpotenzial auszuschöpfen: Den REX oder den neuen, von der SOB betriebenen Ringszug S4, für dessen Auslastung wohl erhebliche Marketinganstrengungen nötig sein werden, zum Beispiel als «Rondom-de-Säntis-Express»– die Circumvesuviana in Neapel lässt grüssen.

 

 

Der Voralpen-Express und seine Vorläufer haben eine lange Tradition: bereits 1926 verkehrten die ersten direkten Wagen Romanshorn – Arth-Goldau, ab 1947 wurden unter dem Namen «Direkte Linie» Nordostschweiz – Zentralschweiz durchgehende Züge bis Luzern angeboten. Als Spezialität waren bis zu Beginn des Taktfahrplans 1982 sogar in mehreren Kursen Buffetwagen eingereiht (eine Tradition, die ab 1997 mit «Bistrowagen» sogar in jedem Zug wieder aufgenommen wurde - ein zwar etwas vollmundiger Ausdruck für ein Angebot ab Verpflegungsautomaten, die immerhin gut bestückt sind). 1991 wurde der VAE aus der Taufe gehoben; als Rollmaterial waren von BT und SOB provisorisch EW IV beschafft worden. Ab 1997 Stundentakt und Ersatz durch revvivo -Wagen, komplett modernisierte EW I (seinerzeitige Expo-Wagen). 1999 gründeten die drei Betreiber BT (Bodensee-Toggenburg-Bahn), SOB und SBB die Vermarktungsgesellschaft «Voralpen-Express», um den zur Marke erhobenen und neu lackierten Zug aktiv zu bewerben. Im Gegensatz zu traditionellen Produkten (wie etwa Glacier- oder Bernina-Express) war sich die neue Gesellschaft stets im Klaren, dass beim Voralpen-Express nicht die Fahrt Hauptargument sein kann (obwohl immerhin sechs Seen gestreift werden), sondern der damit verbundene Zusatznutzen. Das Marketing soll deshalb vermehrt ganze Erlebnispakete anbieten - der Top-Sehens¬würdigkeiten am Wege sind ja genügend: Etwa Rigi und Säntis als Aussichtsberge, Kinderzoo, Alpamare und Verkehrshaus als Familienattraktionen oder die Klöster Einsiedeln und St.Gallen als Weltkulturgüter.

 

Ursprünglich waren die drei Bahnunternehmen je zu einem Drittel beteiligt; seit der Fusion von BT und SOB hält die Schweizerische Südostbahn AG zwei Drittel, und ab Dezember 2013 wird sie auch noch den SBB-Anteil übernehmen.

 


  • Streckenlänge VAE Romanshorn - Luzern: 146.4 km (Romanshorn - Wattwil und Rapperwil - Arth-Goldau: SOB, Rest SBB)

  • Tägliche Verbindungen in jede Richtung:

  • 15 Tägliche Passagiere: 12'500 Jährliche Personenkilometer:

  • 147'620'644 Frequenzzunahme seit Gründung der VAE-Gesellschaft (1999): 24 Prozent (h+h)

 

 

Die Artikelserie «ÖV – Fit für die Zukunft» beleuchtet Hintergründe und Faktoren, welche für die weitere Entwicklung des öffentlichen Verkehr massgeblich sind. Die Serie ist eine Zusammenarbeit der LITRA und der BAHNJOURNALISTEN SCHWEIZ.